Die Uhr
Meine Armbanduhr ist altmodisch. Immerhin: Automatik, aber vor allem gefällt sie mir an meiner Hand. Sie hat eine silbrige Anmutung, und die Zeiger drängen sich dem Blick nicht sogleich auf. Ich kann eigentlich nicht im Verborgenen auf meine Uhr schauen, das kriegt jeder mit. Das immerhin empfinde ich manchmal als einen gewissen Nachteil. Andererseits: Ich kann doch sagen, wenn ich etwa keine Zeit habe und ein Termin drängt.
Kurzum: Ich mag meine Uhr, nun schon seit Jahrzehnten. Alle paar Jahre wird sie vom Uhrmacher in ihre Bestandteile zerlegt und gereinigt. Höchste Anerkennung ist es, wenn er nach gelegentlicher Überholung sagt: „Sie haben aber eine schöne Uhr.“
Neulich war ich mit einem guten Freund Essen. Plötzlich rappelte es vernehmlich an seinem Handgelenk. Sogleich sprang er auf, die Suppe war noch nicht serviert, und er eilte mit seiner Uhr am Ohr durch das Lokal nach draußen, um dort in seine Armbanduhr hineinzusprechen. Das sah sehr komisch aus. Ich war perplex.
„Das war mein Handwerker“, sagte er nach Rückkehr an den Tisch entschuldigend, „Du weißt doch, wie schwer man diese erreicht, unsere Waschmaschine hat einen Defekt.“
Mein Sohn ist Arzt. Er empfiehlt mir schon seit Längerem eine der technisch aufgerüsteten Uhren. „Du kannst den Blutdruck und das Herz messen, das wird doch im Älterwerden immer wichtiger.“ Recht hat er ja. Aber dafür müsste ich meine Uhr ablegen. Will ich das?
Meine Armbanduhr ist doch treu mit mir durch die Jahre mitgegangen, hat die Stunden und Minuten angezeigt. Ich weiß nicht, ob ich mir alle denkbaren Informationen auf den Leib rücken lassen will. Mir sind sie im Alltag sowieso oft schon zu dicht und auch zu redundant.
Da muten die Worte aus dem Prediger Salomo aus dem Alten Testament fast schon archaisch an: „Ein jegliches hat seine Zeit, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“ Ich blättere im Kapitel 3 nach und lese all die aufgeführten Verrichtungen, ganz elementar werden sie beschrieben: lachen, weinen, sich freuen, hadern, zerreißen, zusammenführen…
Sie sind so aktuell, diese jahrhundertealten Worte. Sie sind wie ein Blitz, hineinleuchtend in die Serialitäten steter Informationsflüsse, von denen wir geflutet werden. Im guten Sinne also kritisch zu verstehen: Prüfe die Zeit, die dir gegeben ist und koste sie aus in dem, was jetzt dran ist und getan, gelassen, gelebt werden will. Nimm sie als Gabe, als Gottes Gabe.
In den heißen Sommertagen läuft Manches anders als gewohnt, auch langsamer, weil es anders gar nicht geht. Sie sind eine gute Gelegenheit, dem nachzuspüren, was mich in die engen Zeitintervalle unserer Gegenwart zwingt. Auch die Gelegenheit, auf Entdeckungsreise zu gehen bei sich selbst, etwa in der Stille und im Gebet: Was ist meine Zeit, was kann, was soll in meiner Zeit werden, dass ich sie ausfülle in dieser Weisheit: „Ein jegliches hat seine Zeit, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“
Pfarrer i.R. Martin Bergau