Inventur
Ein Virus hatte mich erwischt. Das war nicht schön. Wenig tröstlich auch, dass es im Moment Vielen so ergeht. Daher war der Jahreswechsel für mich mit Rückzug und Stille verbunden. Wie beharrlich das Virus diesmal meinen Körper belagerte!
Nach und nach ging es wieder voran. Das ist ja immer eine sensible Phase, wenn die Kräfte wieder zurückkehren und man sogleich loslegen möchte – aber Pustekuchen, schön langsam, step by step.
Einigermaßen vorwurfsvoll schaute mich das Arbeitszimmer an. Da war zuletzt wenig passiert. Und jetzt hatte doch das neue Jahr begonnen, frischer Wind, Aufbruch, Charme des Anfangs. Eine Inventur! Das ließ sich doch auch mit den halbwegs zurückkehrenden Kräften machen und ist sonst einigermaßen lästig zu bewerkstelligen.
Der Begriff wird im Geschäftlichen gebraucht und steht zu Jahresbeginn in vielen kleinen und großen Organisationen an. Doch eine Inventur im „eigenen Haus“ ist ja gut und nützlich und pustet alles schön durch, passt auch zum Jahresanfang.
Viel Erfahrung enthält die Wortbedeutung von „Inventur“: Etwas finden, ja: entdecken, ermitteln. So mag es nicht nur mir ergehen: Eine „Inventur“ ist auch immer eine Entdeckungsreise zu liegengebliebenen Dingen, Überraschungen und vielleicht sogar etwas Vergessenem.
All das ist mir nun in den Tagen der Inventur auf dem Weg zur Gesundung widerfahren. Dazu gehören die Programme, manche Zettel von Gottesdiensten und Andachten, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben, mit Grund: Auf ihnen sind manchmal schöne Lieder, Gebete und Psalmen in neuer Form enthalten, wertvolles Stückgut von Veranstaltungen.
Ein Gebet von Friedrich Karl Barth fand ich wieder, aus einer Andachtsform, die wir vor längerer Zeit genutzt haben. Es ist nun mein Gebet zur Mitte der Woche:
Gott, deinen Namen will ich singen,
Dir entspringt mein Leben.
Aus deiner Schöpfung schöpfe ich,
schöpfe meine Kraft.
In deiner Sonne blühe ich.
In deinem Boden wurzle ich.
Aus dir ziehn meine Sinne Saft.
Deine Farben färben mich.
Deine Schatten schlagen mich.
Dein langer Atem schafft mir Luft.
In deine Nacht verkriech ich mich,
ruhe aus und träume.
Dein Morgen weckt mich auf,
spannt meinen Willen an.
Dein Wille setzt voraus.
Ich setze nach und tue, was ich kann.
Dein Abendrot führt mich in Weiten.
Ich ahne meine Zeit.
Die Dunkelheit führt mir beizeiten dein Amen vor,
die unbekannte Ewigkeit.
Gott, deinen Namen will ich singen
Und dann, zu guter Letzt,
versteck den meinen
in deinem großen weiten Kleid.
Amen
Ich packe es in meine Kiste mit Worten, die ich behalten will. Schöne Überraschung. Inventur lohnt sich – einen Virus braucht es dafür nicht.
Pfarrer i.R. Martin Bergau