Nicht schämen!
In dieser Woche haben mich die Äußerungen des Papstes aus einem Interview bewegt, das er mit einer Schweizerischen Radiogesellschaft geführt hat. Einige meiner Gedanken dazu möchte ich in diesem Lesezeichen teilen, das etwas länger geworden ist als sonst üblich.
Im Interview wird Papst Franziskus nach der Situation in der Ukraine befragt. Seine Antwort: „Ich denke, dass der stärker ist, der die Situation erkennt, der an das Volk denkt und den Mut hat, die weiße Flagge zu schwenken und zu verhandeln. Und heute kann man mit Hilfe der internationalen Mächte verhandeln. Das Wort ,verhandeln‘ ist ein mutiges Wort. Wenn du siehst, dass du besiegt wirst, dass die Dinge nicht gut laufen, habt den Mut, zu verhandeln. Du schämst dich, aber wenn du so weitermachst, wie viele Tote wird es dann geben? Verhandele rechtzeitig, suche ein Land, das vermittelt … Schämt euch nicht, zu verhandeln, bevor es noch schlimmer wird… Verhandeln ist niemals ein Sich-Ergeben. Es ist der Mut, das Land nicht in den Selbstmord zu führen“.
Ich finde diese Aussage bedenkenswert: Der Papst denkt darüber nach, wie eine verfahrene Situation, in der man sich verhakt hat (Stichworte „Stellungskrieg“, „Abnutzungskrieg“) geöffnet werden kann.
Ich sehe auch problematische Aspekte in seiner Aussage: Ja, es ist richtig: die Realität anzuerkennen, ist eine Stärke. Auch sonst ist es im Leben ja so: Wer der Wahrheit ins Auge sieht, wird erst wirklich handlungsfähig. Wahrheit befreit; denn man ist nicht mehr in Illusionen und Ideologien gefangen. Aber was der Papst hier als Stärke bezeichnet, wie wird es von anderen gesehen? Wird Putin es nicht als Schwäche ansehen und sich diese Schwäche zunutze machen?
Ein weiteres Problem an der Stellungnahme des Papstes: Der Papst war noch nie in der Ukraine. Er hat sich noch nie ein Bild von der konkreten Situation der Menschen dort machen können. Tausende Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt, sollte man mit Ratschlägen vorsichtig sein: Sie könnten am Denken und Fühlen der betroffenen Menschen, an ihren Hoffnungen und Leiderfahrungen vorbeigehen. Auf der anderen Seite braucht es in verfahrenen Situationen wirklich Vermittler von außen.
Der Papst hat seine Aussagen gemacht aus der Verzweiflung heraus, dass der Krieg in der Ukraine wie auch andere Kriege andauern und so viele Menschenleben kosten. Da ist es gut, nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, wie das Töten gestoppt werden kann.
Ich meine, die Äußerungen des Papstes besser zu verstehen, wenn ich sie im Zusammenhang mit seinem Denken als Jesuit und seiner Haltung überhaupt sehe. In seinem Buch „Wage zu träumen“ habe ich gelesen, dass es ihm darum geht, eine Situation offen zu halten und den Horizont zu weiten. Mit Thomas von Aquin meint er; dass „keine allgemeine Regel in jeder Situation gelten kann“. Ich verstehe das so: Es hilft nichts, allgemeinen Prinzipien, sei es des Pazifismus, sei es des Pochens auf Gerechtigkeit um jeden Preis, zu folgen. Alle Aufmerksamkeit muss auf das Konkrete und Persönliche, nicht auf Abstraktes und Allgemeines gerichtet sein.
Zu einer ähnlichen Haltung war auch der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer in seiner „Ethik“ gekommen: „Der Verantwortliche hat kein absolut gültiges Prinzip zur Verfügung…, sondern er sieht das in der gegebenen Situation Gebotene… Es muss die Frage nach dem Möglichen gestellt werden, es kann nicht immer sofort der letzte Schritt getan werden. Das alles muss so sein, weil Gott zum Menschen Ja sagt und wir nur als Menschen in unserer Begrenztheit des Urteils handeln können. Während alles ideologische Handeln seine Rechtfertigung immer schon in seinem Prinzip bei sich selbst hat, verzichtet verantwortliches Handeln auf das Wissen um seine letzte Gerechtigkeit. Der ideologisch Handelnde sieht sich in seiner Idee gerechtfertigt, der Verantwortliche legt sein Handeln in die Hände Gottes und lebt von Gottes Gnade.“
Pastor Peter Oßenkop