Johann Sebastian Bach und die orthodoxe Liturgie
In dieser Woche, der Karwoche der Orthodoxen Kirche, gehe ich ins Konzert: Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion wird aufgeführt. Ich freue mich darauf, weil mir dieses große Passionsoratorium seit meiner Jugendzeit vertraut ist. Es gehört an vorderster Stelle zu der geistigen Welt, die mich geprägt hat und in der ich zu Hause bin. Und schon im Vorfeld der Aufführung bin ich beeindruckt, dass griechische Musiker und Musikerinnen sich diesem Stück „meiner“ Kultur widmen.
An den folgenden Abenden werde ich dann die Gottesdienste der Karwoche in der Orthodoxen Kirche besuchen. Als ich vor zwei Jahren die Gelegenheit hatte, hier in Athen an den gottesdienstlichen Feiern der orthodoxen Karwoche teilzunehmen, musste ich häufiger an Bachs Matthäus-Passion denken. In den orthodoxen Gottesdiensten wird das Menschheitsdrama von Tod und Leben so intensiv entfaltet und so theologisch-tiefsinnig kommentiert und interpretiert, dass ich mich fragte, wo mir sonst etwas so Ergreifendes je begegnet ist. Da ist mir nichts Geringeres als die Matthäus-Passion eingefallen, die mich auch so ergreift, wenn auch mit anderen Mitteln und anderen Akzentsetzungen als in der Orthodoxen Kirche.
Man kann auch an die antiken Tragödien von Aischylos oder Sophokles denken, die die unheilvolle Verstrickung der Menschen vor Augen führen; die Zuschauer sind erschüttert. In der orthodoxen Liturgie und ebenso in Bachs Matthäus-Passion wird dagegen das Drama der Heilsgeschichte präsent. Da werden so viele existenzielle Erfahrungen verarbeitet. Es kommt alles vor: Finsternis und Licht, Traurigkeit und Trost, Bedürftigkeit und Gnade, Ausgeliefertsein und Souveränität, Erregung und Beruhigung, Angst und Befreiung, Leben am Abgrund und in erfülltem Frieden, Tod und Überwindung des Todes.
Es bleibt aber nicht beim Ergriffensein, sondern gegen Ende des orthodoxen Ostergottesdienstes scheint eine Perspektive für unser Leben jetzt auf: „Tag der Auferstehung! Strahlend wollen wir bei der Festfeier uns einander umarmen, wollen ‚Brüder‘ sagen auch zu denen, die uns hassen, wollen alles verzeihen wegen der Auferstehung!“
Pastor Peter Oßenkop