Momente
Es gibt sie hin und wieder, diese Momente, unerwartet. Da sind wir verwirrt, es schießt uns ein Gedanke durch den Kopf. Mitten im Alltag staunen wir: Wie wunderbar sind wir gemacht! Neulich passierte es einmal wieder. Und das kam so:
Dichtgedrängt stand ich auf dem Bahnsteig. Ein Zug war ausgefallen. Der Ersatzzug ließ auf sich warten. In Deutschland werden solche Geschichten öfter erzählt, also nichts Ungewöhnliches. Es waren noch die kühlen Tage, die Sonne ohne rechte Kraft. Es dauerte. Ich ließ meinen Blick schweifen, schaute mir die Menschen an, wich gelegentlich jemandem aus, der seinen Koffer durch die Menge zwängte. Die allermeisten verharrten wie ich.
Dann sah ich es. Vor mir stand ein Mann mittleren Alters, unauffällige Kleidung, mit einer Aktentasche in der Hand. Soweit so gut. Als mein Blick zufällig nach unten gerichtet war, sah ich, dass der Mann keine Schuhe anhatte. Auch keine Strümpfe. Wohlgekleidet stand er mit nackten Füßen da. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Natürlich musterte ich ihn sogleich, ob sonst etwas Auffälliges an ihm war, nein, er passte absolut in die versammelte Menge auf dem Bahngleis.
Wohl erkannte ich, dass seine Füße richtig gut aussahen, da war nichts verformt oder wund, die Zehen verteilten sich entspannt auf dem Boden. Es schien, als ob sein Verhalten für ihn ganz selbstverständlich war, keineswegs ungewohnt.
Als der Zug einfuhr, stieg er ein wie wir, und dann verlor sich seine Person aus meinem Blick im Gedränge am Waggon.
Wir bewegen uns in einer hochtechnisierten Welt, voller Abläufe nach Norm, Zeit und Geschwindigkeit. Unser Körper bewegt sich darin. Ein Fuß ist eine sehr komplexe Angelegenheit unseres Leibes. Allein 26 Knochen sind über 33 Gelenke miteinander verbunden. Und an Muskeln sorgen gleich 20 für die Bewegung, tagaus, tagein. Ein einziges Wunderwerk der Natur, dem man nur die angenehmsten Schuhe gönnen sollte. Und Barfußgehen ist sehr gesund, wenn es auch nicht auf einem Bahnsteig sein muss.
Irgendwie merkwürdig finde ich es auch im Nachhinein, dieser Mann, wie er so still wartend in der Menge mit seinen nackten Füßen stand. Ein sehr individueller Ausdruck! Und auch eigenwillig. Aber er brachte mich zum Nachdenken. Mir ging durch den Kopf der Vers 14 aus dem Psalm 139: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind seine Werke; das erkennt meine Seele.“ Und dann stieg auch ich bewussten Schrittes in den Zug, der endlich doch noch eingefahren war.
Pfarrer i.R. Martin Bergau