Einheit in ökumenischer Vielfalt
Wir haben Pfingsten gefeiert. Es ist im Kern ein Fest der Freude, dass Gott durch seinen Geist in und unter uns Menschen wirkt. Dadurch ist es auch das Fest der Kirche. Es gibt aber nicht die eine – einzige – Kirche, es gibt viele Kirchen. Das mag man beklagen, gerade weil die Kirchen gegeneinander gekämpft haben und auch heute noch uneins sind. Aber ist es nicht auch gut, dass es keine Einheitskirche gibt? Müssen es nicht viele Kirchen sein? „Gottes Sprache ist eine mehrzahlige Sprache“, sagt ein Philosoph (Emmanuel Lévinas).
„Einheit in der Vielfalt“ ist das Modell für die Ökumene: keine Einheitlichkeit, sondern eine „differenzierte Gemeinschaft“. Dieses Modell geht davon aus, dass die Wahrheit nicht nur von einer Gruppe, einer Kirche oder einem Würdenträger ausgeschöpft wird. Keiner befindet sich im Vollbesitz der Wahrheit, aber viele bemühen sich, die Wahrheit aus ihrer – begrenzten – Perspektive zum Leuchten zu bringen.
In einer differenzierten Gemeinschaft haben die einzelnen Kirchen unterschiedliche Gaben. Ein orthodoxer Theologe, Sergej Bulgakov (geboren 1871 in Russland, gestorben 1944 im Exil in Paris), hat das so beschrieben: „Jeder historische Zweig der weltweiten Christenheit hat eine besondere Gabe empfangen, die für ihn charakteristisch ist: Der Katholizismus hat die Gabe der Organisation und Autorität bekommen, der Protestantismus die Gabe der intellektuellen Redlichkeit und der Lebensgestaltung; den Orthodoxen ist es gegeben, zu schauen und zu repräsentieren die Schönheit der spirituellen Welt.“
Im Zentrum der orthodoxen Kirche steht die Liturgie, der Gottesdienst, ein geradezu ewig andauernder und dementsprechend sehr langer Lobgesang. Die Erwartungen, die Menschen an einen evangelischen Gottesdienst stellen, werden hier nicht erfüllt. Im orthodoxen Gottesdienst steht nicht die Predigt im Zentrum sondern er lädt ein, sich hineinnehmen zu lassen in eine andere Welt, die einen trägt, und teilzuhaben an der Welt Gottes, repräsentiert durch die Ikonen und den liturgischen Gesang, durch Weihrauch und Zeremonien: Lass dich einfach erfüllen von der Schönheit der Liturgie, lass das Vestehenwollen los!. Es gibt jedoch eine Gefahr, der diese orthodoxe Haltung ausgesetzt ist: die Gefahr der Erstarrung im Traditionalismus, dass die Menschen nicht mehr erreicht werden.
Der katholischen Kirche ist die Gabe der Organisation und Autorität gegeben. Das klingt vor allem für Protestanten fremd und widerstrebt ihrem Freiheitsgeist. Aber hinter Organisation und Autorität steht der Wunsch, die Kirche möge in der Gesellschaft erkennbar sein: wahrnehmbar und sichtbar und hörbar. Der Glaube ist zwar etwas Persönliches, aber nicht reine Privatsache. Er braucht ein öffentliches Gesicht, damit man sich in der Gesellschaft mit der Botschaft des Glaubens auseinandersetzt, damit in Schule und Erziehung und in den Debatten einer Gesellschaft von der christlichen Botschaft die Rede ist.
Die Ernsthaftigkeit des Glaubens ist das große Verdienst des Protestantismus. Das persönliche Verstehen steht im Vordergrund. Es geht im Glauben nicht um das Nachsprechen von etwas, was man einmal gelernt hat; nicht um das Fürwahrhalten von Lehraussagen, weil sie die kirchlichen Autoritäten verkündet und verbindlich festgelegt haben. Auch die Autorität der Bibel allein ist nicht der Maßstab, sondern der persönlich verstandene und gelebte Glaube. Also nicht: Weil es so in der Bibel steht, muss man es glauben oder muss man so und so handeln.
Dieser Anspruch ist gut, er ist aber auch sehr hoch, vielleicht zu hoch. Vielleicht ist es zu viel und geradezu anmaßend, wenn man sagt: Ich will nur das zugestehen, wofür ich selber einstehen kann. Wir stehen doch in einer großen Geschichte drin, in die wir uns mit unserer persönlichen Prägung einfügen, die wir aber nicht überflüssig machen. Und fehlt dem protestantischen Ernst nicht etwas: das Emotionale, das Mystische und das Rituelle der Religion? Orthodoxe küssen die Ikonen, Katholiken bekreuzigen sich und knien nieder, und sogar die Fußballfans küssen den Siegespokal ihrer Mannschaft. Und die Protestanten?
Pastor Peter Oßenkop