Scherben zählen
Seit drei Monaten gehe ich einmal in der Woche für zwei, drei Stunden ins Deutsche Archäologische Institut Athen. Dort habe ich ehrenamtlich eine kleine Aufgabe übernommen: Es geht um die Notiz- und Tagebücher solch bedeutender deutscher Archäologen wie Wilhelm Dörpfeld und Ernst Buschor, die vor über 100 Jahren Ausgrabungen im antiken Olympia durchgeführt haben. Ihre Notizen sind in sog. Kurrentschrift geschrieben, der altdeutschen Schrift, die später als Vorlage für die einfachere Sütterlinschrift diente. Ich und die beiden Damen, die auch an dem Projekt beteiligt sind, sollen die Notizbücher „entziffern“, damit sie digitalisiert für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich werden.
Bei dieser Arbeit wird mir manches bewusst, was ich auch in anderen Zusammenhängen für wichtig halte:
Viele Wörter sind nicht leicht zu entziffern. Ich muss genau aufpassen und darf kein Häkchen dieser ungewohnten Schrift übersehen. Vieles sieht zum Verwechseln ähnlich aus: Steht da „Scheibe“ oder „Scherbe“ oder „Schale“? Alles könnte irgendwie passen. Aber was ist richtig? Ich lerne genau hinzusehen und nicht einfach in den Computer zu tippen, was ich vielleicht zunächst vermute. Genauer hinzusehen, wäre auch bei vielen anderen Dingen wichtig, die nichts mit Archäologie zu tun haben.
Manche Wörter sind so unleserlich, dass ich sehr lange über ihnen brüte. Ist es ein Fachbegriff, den ich nicht kenne? Ich frage dann den wissenschaftlichen Mitarbeiter, der das Projekt begleitet: Er hat eine Vermutung, ich habe eine neue Idee. Wir tauschen uns aus und spielen geradezu mit den Möglichkeiten. Im Gespräch fällt dann oft der „Groschen“, und ich freue mich über ein „Aha“-Erlebnis. Kooperation ist schön und macht Spaß!
Oft wundere ich mich, wie akribisch alle Details angeführt werden, die bei der Ausgrabung zutage treten: z.B. 3 dünnwandige rote Scherben, 1 lackierte Scherbe, 3 Scherben mit Einritzungen. Oder die Bodenbeschaffenheit: bis 90 cm Tiefe sandig, dann bis 1,10 m Schuttmaterial, dann bis 1,70 m fester Kiesel. Ich stelle fest, dass die Archäologen auch den kleinsten Fund einzeln wahrnehmen und beschreiben. Ist das wirklich so wichtig? Für mich als Leser ist das nicht gerade spannend. Aber für einen seriös arbeitenden Wissenschaftler könnte jedes kleinste Detail bedeutsam sein, und es ist wert, vermerkt zu werden. Das ist wissenschaftliches Arbeiten: nicht vorschnell eine Interpretation vornehmen und Zusammenhänge herstellen, die sich als allzu gewagt und subjektiv herausstellen könnten. Jedes Detail könnte die Gesamtschau verändern. Für mich wäre es natürlich spannender, etwas über so ein Gesamtbild zu erfahren, als am Zählen der Scherben teilzunehmen.
Entsprechendes ist zu bedenken für viele Diskussionen, die heute – oft über Social-Media – in der Öffentlichkeit geführt werden: Da werden vorschnell Meinungen vorgebracht. Und es wird gefragt, ob man auf der richtigen Seite steht. Aber die Dinge sind in Wirklichkeit viel komplexer, und die Meinungsbildung ist viel komplizierter. Da ist es gut, sehr viele Einzelfaktoren in den Blick zu nehmen – wie man eben in der Archäologie jede einzelne Scherbe zählen muss.
Pastor Peter Oßenkop