Dieser Moment
Es wurde spät. Auf der Autobahn plagte uns ein langer Stau. Start-Stopp, und das stundenlang. Das war am Tag, als die Olympischen Spiele in Paris eröffnet wurden. Spätabends zurück, wollte ich noch eine Zusammenfassung der Eröffnungsfeier anschauen. Doch zu meiner Überraschung war sie immer noch im Gange, im verregneten Paris. Die Übergabe des Olympischen Feuers stand an, wunderbare Szenen, allein meinen Fußballhelden Zinedine Zidane wiederzusehen, mit der Fackel in der Hand, umgeben vom begeisterten Applaus der längst nassgewordenen Zuschauer.
Und dann kam der entscheidende Moment, in dem nach der langen Stafette das Feuer entzündet und der lichtgeflutete Ballon über Paris zum Aufsteigen gebracht werden sollte. Die Laufgruppe bewegte sich auf einen sehr alten Mann, im Rollstuhl sitzend, zu. Er wird der nächste Fackelträger sein.
Die Kamera fährt ihn von hinten an, wir erkennen dann sein Gesicht von der Seite. Es ist Charles Coste, ein 100 Jahre alter Sportler. Die Symbolik ist kaum zu übertreffen, denn er ist im Jahr 1924 geboren. In dem Jahr war Paris zum letzten Mal Ausrichter der Olympischen Spiele.
Vor 76 Jahren war Coste, ehemaliger Radrennfahrer, Mitglied des Quartetts aus Frankreich, das 1948 in London die olympische Goldmedaille im Verfolgungsrennen gewinnen konnte. Als einzig noch Lebender hatte er die Aufgabe übertragen bekommen, die olympische Fackel nach zahllosen Stationen zur Entzündung an zwei Sportler zu übergeben. Das war der Countdown.
Sein ausgestreckter Arm hielt die Fackel fest in seiner Hand. Wie schwer mochte sie sein? Der Blick war konzentriert, irgendwie ruhig, gefestigt und klar. Die Augen unbeirrt auf das Geschehen gerichtet. Die markant gewachsene Nase gab seinem Gesicht eine scharfkantige Form.
Es war dieser Moment. Es schien, als dehnte sich für diesen Augenblick die Zeit. In seinem Gesicht, in seinem sicheren Bewegen, in seinen Augen, die 100 Jahre Lebens gesehen haben, trat eine Würde hervor, die in mir immer noch bildhaft da ist.
Wir können in diesen Wochen die herausragenden Sportlerinnen und Sportler bewundern, Leistungen bestaunen, Sieg und Niederlage miterleben. Sie haben vermutlich über Jahre auf diesen Zeitpunkt hin trainiert, ihn ersehnt, und sie werden alles geben, ihren Traum wahr zu machen.
Vergessen werde ich diesen Moment aber nicht, als im Bild sichtbar wurde, dass es letztlich um ein als Ganzes gelebtes Leben geht, dass es diesem Würde, ja, Achtung verleiht. Wenn es die Frage ist, wie sich „Lebenswürde“ ins Bild umsetzen und wirken, gewissermaßen „sprechen“ lässt – das war für diesen Moment ein großes Beispiel.
Ein Glück für uns, dass sich der Stau noch rechtzeitig nach zwei Stunden aufgelöst hat, denn ich hätte wohl etwas verpasst.
Pfarrer i.R. Martin Bergau