Von der Güte
Ist es möglich, Hass zu überwinden, wurde letzte Woche gefragt. Und so fragen wir weiter: Ist es möglich, Feindseligkeit und Ablehnung, wie wir sie in unserer Umwelt erleben, zu besänftigen, auszulöschen? Lebt in uns die Güte Gottes, die er uns in seiner Liebe erweist, so dass wir Abstand nehmen können, nicht in gleicher Münze zurückzahlen müssen, wenn wir verletzt werden? Und genauer gefragt: Ist Verständigung, ist ein gutes Zusammenleben mit Angehörigen anderer Nationalitäten und Religionen möglich?
Es ist hilfreich, wenn wir von anderen inspiriert werden, deren Beispiel uns ermutigt, Grenzen zu überschreiten, die durch Unwissen und mangelndes Verständnis entstehen.
In einigen Tagen findet das Gedenken der 40 Tage an den verstorbenen Erzbischof Anastasios statt, der seit 1992 das Oberhaupt der autokephalen orthodoxen Kirche von Albanien war. Bei Wikipedia lesen wir: „Sein offizieller Titel war Erzbischof von Tirana und ganz Albanien, aber er wurde auch schon Erzbischof von Tirana und allen Atheisten genannt und hat diesen Titel nicht zurückgewiesen – seine Kirche war offen für alle, gleich welchen Glaubens.“
Das bezeugt sein Werk der Wiederaufrichtung der orthodoxen Kirche in Albanien. Dazu gehörte nicht nur die Neugründung von Diözesen und die Restaurierung zerstörter Kirchen, sondern auch der Bau von Straßen in einem unwirtlichen Gelände, die Gründung von Schulen, Kindergärten, des University College LOGOS mit inzwischen drei Fakultäten. Durch die damit verbundene Bautätigkeit entstanden neue Arbeitsplätze. Die Bemühungen des Erzbischofs richteten sich also nicht ausschließlich an die orthodoxen Christen, sondern an alle albanischen Bürger, unabhängig von ihrer Religion.
Das gelang ihm, weil er den Zumutungen des griechischen und albanischen Nationalismus auswich und sich von Feindseligkeiten heftiger Art nicht bremsen ließ. „Wir haben ihn nicht geliebt“, schrieb in einer Art Selbstkritik der Direktor der Zeitung TEMA, ein muslimischer Bektaschi. „Er war der Erzbischof, der uns geliebt hat.“ Und das trug Früchte. In einem Interview sagte Erzbischof Anastasios: „Wir haben in Zeiten der Krise im Lande zur Erleichterung der Menschen zusammengearbeitet, und jeder weiß, dass die Religionsgemeinschaften in Albanien (Muslime -Sunniten und Bektaschi-, orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen) nicht nur das friedliche Zusammenleben unterstützt haben, sondern auch, wo immer möglich, gemeinsame Anstrengungen für eine positive Zusammenarbeit unternommen haben.“ Er vertrat die Ansicht, dass die religiösen Überzeugungen der Menschen mit dem kulturellen Hintergrund und anderen Einflüssen zusammenhängen, dass sie ein Ausdruck ihrer von Gott gegebenen Freiheit sind. Das Gespräch zwischen den Menschen sei kein Luxus, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Friedens. „Liebe ist die mächtigste Sprache Gottes“, so seine eigenen Worte. Wer ihn hat sprechen hören, hat das gespürt.
Vielleicht können auch wir uns von dem, was uns an anderen fremd ist, nicht abhalten lassen, ihre Schätze zu erkunden? Es wird unser Herz weiten.
„Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!“ heißt es in Psalm 36. „Sie werden satt von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkst sie mit Wonne wie mit einem Strom. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht.“
Irene Vasos