Zu sich stehen
Die auf den Herrn sehen, werden strahlen vor Freude, und ihr Angesicht soll nicht schamrot werden.
Psalm 34, 6
So lautet die Tageslosung für die Mitte der Woche. Dazu einige Gedanken: Die Scham ist ein unliebsames Empfinden. Im Psalmvers wird eine der körperlichen Reaktionen beschrieben, wenn Menschen von einem Schamgefühl ergriffen werden – jedenfalls im ersten Moment. Die Hitze im Leib wächst, etwas Unangenehmes soll verborgen werden, und das gelingt nicht. Bei Kindern ist diese Reaktion besonders gut zu merken, die Schranken dafür sind meistens niedrig. Doch im Erwachsenenleben gibt es Erfahrungen mit Schamgefühlen und auch Möglichkeiten, sie zu verbergen, sie “im Griff“ zu haben. Oft reichen durchaus kleine Dinge, Scham auszulösen, eine Unaufmerksamkeit etwa, ein überflüssiges Wort oder auch das Schweigen zum falschen Zeitpunkt. Das bohrt dann im Innern und bleibt haften.
Die Scham hat eine ungeheure Energie und wird oft unterschätzt. Nicht ohne Grund spielt sie in den Urgeschichten der Menschheit bereits eine prominente Rolle: Wir erinnern uns, schon in der Schöpfungsgeschichte, als Adam und Eva ihre Blöße bedeckten, weil sie sich schämten ob der Grenzverletzungen, die für immer die Trennung von der göttlichen Sphäre zur Folge hatte.
Und damit ist ein Urbild für die Wucht der Scham beschrieben. Es gilt nämlich, etwas zu verbergen, etwas Unangenehmes, das man unbedingt vermeiden will. Sie lässt sich jedoch nicht einfach wegpacken, als heile die Zeit alle Dinge. Sie wirkt weiter.
Sie lässt sich beschreiben wie etwas Überflutendes, wie Wasser, das sich in alle Ritzen und Poren des Leibes hineingießt, der schamrot zu werden beginnt und das eigene Gefühl für den Selbstwert angreift. Sie verunsichert letztlich und kostet viel innere Kraft.
Im Psalmvers wendet sich der Blick: Die auf den Herrn schauen, werden strahlen vor Freude. Im Angesicht Gottes, im Gebet zuerst, dürfen wir aussprechen, was uns Angst macht, was wir versäumt haben und uns beschämt. Und damit auch um die Kraft bitten, zu neuem Mut zu finden, einem aufrichtigen Aussprechen und dann auch Verhalten zu dem, was mitunter schon lange vor sich hin wabert. Zur Freude mag es dann noch ein langer Weg sein, es kostet Kraft und eigene Mühe, der Scham nicht das Feld zu überlassen. Doch Freude wird sich einstellen, in neuer Klarheit.
Die Scham ist neben dem Angstgefühl der am schnellsten sich verallgemeinernde, sich ausbreitende Affekt in unserem Innern. Sie hat etwas Überflutendes, wie ist wie Wasser, das sich in alle Ritzen und Poren hineinergießt und keine wirkliche Grenze kennt. Unser Inneres wird im Empfinden der Scham gewissermaßen überflutet, nach und nach.
Und sie hat eine beidseitige Funktion: Nachinnen, in das Gefühl des Selbstwerts, wie auch nach außen. Die Scham ist die Wurzel für die Gefühle von Minderwertigkeit, eines sich Kleinmachens, bis dahin, wie es Jeremia ergeht, dass es in eine Art Verstimmung oder Depression führt.
Und sie hat Macht. Sie kann sich ausdehnen und andere Bereiche des Innern besetzen. Und sie ist dann plötzlich wirksam, wenn man es gerade nicht braucht, sondern alle Kraft für den Tag und seine Aufgaben bracht. Sie besetzt das Innere. Das Aufbegehren gegen sie führt zu den unterschiedlichsten Reaktionen. Wer beschämt worden ist, weiß das: Das macht aggressiv, oder es löst Ohnmachtsgefühle aus. Jedenfalls bleibt man nicht mehr bei sich. Sie ist wie eine Wunde im Innern. Scham bezieht sich also auch auf das innere Auge des eigenen Gewissens, dem gegenüber man sich ausgesetzt fühlt. Sie wird als Schwäche erlebt, und der Beschämte erlebt es als Missachtung, Entwertung oder Hohn, als ein Ausgeliefertsein ohne jede Kontrollmöglichkeit. Und Jeremia ergeht es wie jedem Menschen in der Situation: Das Gefühl will er nicht spüren müssen. Das will er weghaben. Dem will er seine Seele nicht ausgesetzt sehen.
O ja, da erinnere ich in allen Facetten meine damalige Gefühlsspanne, aussichtslos, wie ich es seinerzeit empfand. Schamgefühle sind eben unglaublich wirksam.