Wie viele andere bin ich seit langem entsetzt über das, was an verschiedenen Orten der Welt geschieht. Inzwischen fehlen mir die Worte.
Nur das möchte ich sagen: Hören wir niemals auf, solidarisch zu sein mit den Opfern jeglicher brutaler Gewalt.
Insbesondere denke ich an Fatima Hassouna, die ihre Mitmenschen unablässig unterstützte. Sie war eine palästinensische Fotojournalistin und die Protagonistin des Dokumentarfilms Put Your Soul on Your Hand and Walk, den die exil-iranische Regisseurin Sepideh Farsi gedreht hat. Hassouna wurde am 16. April 2025, einen Tag nachdem der Film für die Filmfestspiele von Cannes ausgewählt worden war, bei einem gezielten israelischen Luftangriff auf das Haus ihrer Familie getötet, zusammen mit mehreren Verwandten.
Von Schatten und Licht
Im hellen Sonnenlicht spielte ich mit zwei Kindern auf unserer Dachterrasse Schattenfangen. Sie sprangen hin und her, um auf den Schatten des anderen zu treten und um gleichzeitig ihren eigenen vor solch einem Tritt zu bewahren. Dabei schütteten sie sich aus vor Lachen.
In einer Pause fragte der Jüngste: „Warum habe ich einen Schatten?“ „Schau in die Sonne“, sagte ich. „Was siehst du?“ „Licht, es blendet mich.“ „Dreh dich um. Was siehst du?“ „Ach, das bin ich!“ sagte der Kleine und hampelte mit Armen und Beinen. „Das Licht geht um mich herum!“ „Es kann nicht durch dich scheinen“, sagte seine ältere Schwester. „Aber es malt deinen Schatten. Und jetzt…“ Da begannen sie wieder ihr lustiges Spiel.
Später erzählte ich den Kindern die Geschichte von Peter Schlemihl, der einem Unbekannten – dem Teufel – seinen Schatten verkauft, um unermesslich reich zu werden. Das genießt er nicht lange, denn die Menschen begegnen dem schattenlosen Mann mit Misstrauen, meiden und verspotten ihn, so dass er sich nur am Abend aus dem Haus traut. Er war aus dem Licht getreten, als er seinen Schatten verlor.
Meistens verbinden wir das Wort Schatten mit negativen Vorstellungen: Er stand im Schatten seines Bruders. Wo Licht ist, ist auch Schatten – nichts ist ganz und gar gut, eine pessimistisch klingende Aussage. Denn es ist ja wahr: Am Ort des Schattens ist kein Licht.
Aber Schatten werden vom Licht geschaffen, was wir auch daran sehen können, dass sie nicht immer dunkel sind, sondern auch farbig getönt. Ein gelber Pullover wirft einen bläulichen Schatten, eine rote Tasche einen grünlichen. Und so möchte ich den Satz „Wo Licht ist, ist auch Schatten“ umkehren: Wo Schatten ist, ist immer Licht.
Wenn wir, im übertragenen Sinn, den Schatten als das Dunkle und Schmerzhafte in unserem Leben begreifen, so sehen wir: Unser Kummer hat etwas mit unserem innersten Wesen zu tun, mit unserer Lebensfreude und mit unserer Liebe zu anderen. Wäre ich über den Verlust eines Menschen so tief traurig, wenn er mir nicht so nahe gewesen wäre, wenn ich ihn nicht so sehr geliebt hätte? Würde mich das abweisende Verhalten von Freunden so sehr kränken, wenn ich mich ihnen nicht so verbunden gefühlt hätte? Würde mich eine Krankheit so sehr betrüben, wenn ich das Leben nicht so sehr liebte? So gehört das Dunkle im Leben, unser Schatten in sehr persönlicher Weise zu uns. Wir können es nicht wegschneiden, aber es verweist uns auf das Licht, das uns umgibt.
Wie gehen wir damit um? Henri Nouwen zeigt in seinem Buch „Du bist der geliebte Mensch“ zwei Wege: unseren Schmerz zu durchleben, sich mit ihm anzufreunden und dabei Hilfe zu suchen. Und ihn unter den Segen zu stellen, weil wir auch im Leid der geliebte Mensch sind.
Das scheint ein schwieriger Weg zu sein. Aber manche haben ihn schon beschritten.
Nun kommt die Frage, die die auf der Dachterrasse spielenden Kinder nicht gestellt haben: Können wir uns vorstellen, dass es einen Bereich gibt, der nur von Licht erfüllt ist? Beim Betrachten byzantinischer Ikonen sehen wir: Sie kennen keine Schatten, sie leuchten aus sich selbst. Sie sind Fenster in eine andere, von oben erleuchtete Welt, deren Figuren uns anschauen.
Irene Vazos