Von der Erinnerung
Nun sind die Tage der nationalen Erinnerung nicht weit. In Griechenland ist es die Erinnerung an die bewundernswürdige Leistung, dass die griechische Armee 1940 den italienischen Angriff zurückschlagen konnte. Ein Fest zum Frohlocken? Verborgen darin liegt der Schmerz über alles, was danach kam: die Schrecken der deutschen Besatzungsherrschaft 1941-1944, der dadurch ausgelöste Bürgerkrieg. Unendliches Leid.
„Ich will meinen Mund auftun zu einem Spruch und Geschichten verkünden aus alter Zeit“, sagt der Beter im 78. Psalm. „Was wir gehört haben und wissen und unsere Väter uns erzählt haben, das wollen wir nicht verschweigen unseren Kindern.“
Diesen Satz des 78.Psalms schrieb Bundespräsident Johannes Rau am 13.Dezember 2000 in das Erinnerungsbuch, als er am Gedenktag der Zerstörung Kalavrytas und der Ermordung seiner Einwohner teilnahm. Rau knüpfte an den hohen Stellenwert an, den die Erinnerung im jüdischen Glauben hat und meinte dabei uns Deutsche. Was haben wir gehört, was haben unsere Eltern und Großeltern erzählt, kennen wir die Fakten?
In Deutschland hat die Geschichte der Erinnerung an die Weltkriege verschiedene Phasen durchlaufen, vom Verschweigen und der Trauer um das eigene Leid, von der Auseinandersetzung mit Scham und Schuld hin zum Bemühen um das Wachhalten der Erinnerung, seitdem die meisten Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind. So hat auch der Volkstrauertag, der ursprünglich dem Gedenken an die gefallenen Soldaten galt, seinen Charakter geändert. Seit den 90er Jahren wird bei der Feier im Bundestag auch der Opfer der Gewaltherrschaft gedacht, und im Totengedenken nennt der Bundespräsident die einzelnen Gruppen der Menschen, die verfolgt und getötet wurden.
Seit 1993 ist die Neue Wache in Berlin die zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Opfer seien eigentlich alle, wird in dieser Formulierung ausgedrückt, und damit wird eine Erinnerungsgemeinschaft vorausgesetzt, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Gemeinsames Gedenken von Siegern und Besiegten hat Tradition, wie z.B. bei der Feier des Volkstrauertags auf dem Soldatenfriedhof in Rapendoza. Aber es gibt keine gemeinsamen Rituale des Gedenkens zwischen Kriegsopfern und Opfern der Verfolgung.
Zwischen ihnen gibt es einen großen Unterschied. Meine Freunde in Kalavryta mussten ohne Vater aufwachsen. Auch viele von uns waren infolge des Krieges vaterlos. Aber die getöteten Soldaten, unsere Väter und Großväter, sind in Kampfhandlungen gefallen, die Opfer der Besatzungsherrschaft wurden ermordet. Daher unterscheidet sich das Gedächtnis der Opfer und ihrer Nachkommen von dem der Menschen, die zur Gruppe der Täter gehören, auch wenn sie selbst nicht persönlich verantwortlich sind.
Und dieser Unterschied darf nicht verwischt werden, wenn wir die gemeinsame Zukunft im Auge haben. Die Kriegsverbrechen sind unauslöschliche Tatsachen und werden nicht vergessen, nicht bei den Einzelnen und nicht bei der Allgemeinheit, denn sie prägen das Leben aller Betroffenen und ihrer Nachkommen. Für uns gibt es nur die Solidarität in der Erinnerung, die Bereitschaft, sich in Anteilnahme um Kenntnis und wahres Verständnis zu bemühen. Erst dann kann die Frage gestellt werden, welche Bedeutung die Vergangenheit für unsere Gegenwart hat, die Frage, ob vergangene Hoffnungen jetzt eingelöst werden können.
So kehren wir zurück zum 78.Psalm. „Was wir gehört haben und wissen und unsere Väter uns erzählt haben, das wollen wir nicht verschweigen unseren Kindern.“
Irene Vasos
