Langer Atem
Es ist eine imposante Treppe, die zu unserer Kirche hoch führt. 35 Stufen sind zu bewältigen. Seit diesem Jahr fehlt das Grün aus Ästen und Ranken, das sich wie ein Tor über dem Treppenaufgang wölbte. Aus Sicherheitsgründen hatte man sich entschlossen, es zu entfernen. Jetzt ist der Blick auf die Treppe völlig frei. Dann wurde ein großer Torrahmen aus Holzbalken angebracht. Im Lauf der Zeit wird sich die Kletterpflanze neu darum ranken. Ein Tor aus Zweigen, Blättern und Blüten wird wachsen. Das geht nicht als Schnellanfertigung auf Kommando; es wird einige Zeit dauern.
Kürzlich sagte jemand: „Wie schade! Die Treppe ist jetzt so kahl. Ich habe nichts davon, wenn irgendwann in der Zukunft alles so weit gewachsen ist, dass wieder ein schönes großes Tor entsteht. Ich werde es nicht mehr erleben.“
Menschen fangen vieles an. Die Vollendung erleben sie nicht mehr selber. An den großen Kirchen des Mittelalters ist oft über Jahrhunderte gebaut worden, sozusagen für die Ewigkeit. Auch in unserer Zeit gibt es das: Die berühmte Kirche „Sagrada Familia“ in Barcelona wurde Ende des 19. Jahrhunderts begonnen und ist immer noch nicht vollendet; als Fertigstellungsdatum wird jetzt 2026 genannt. Und auch ganz profan: Wenn man übers Land fährt, sieht man Häuser, bei denen man nicht weiß, ob sie schon fertig sind oder ob sie irgendwann vielleicht noch ein weiteres Obergeschoss bekommen werden. Die Eisenstäbe für den Beton ragen oben heraus.
Menschen fangen etwas an, ohne zu wissen, wann und ob es je fertig wird. Aber was heißt schon fertig? Was eine Sache oder ein Ereignis bedeuten, ist auch nicht ein für allemal klar. Nichts ist abgeschlossen. Wir wissen nicht, welche Bedeutungen und Interpretationen ein Kunstwerk erfahren wird. Vor allem wissen wir nicht, was aus einem Kind wird, wie sich Menschen entwickeln werden. Sie sind nie fertig.
Wir fangen einfach an. Wir sind überzeugt: Jetzt muss es sein, und wir lassen alle Bedenken beiseite. Wir fangen an im Vertrauen, dass Gutes daraus wird, dass es sinnvoll ist, dass es eine Bedeutung haben wird für andere Menschen, dass es nicht vergeblich ist. Wir hoffen auf ein gutes Ende, aber wir verfügen nicht über das Ende.
Es gibt ein berühmtes Zitat von Vaclav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“
Peter Oßenkop