Im heutigen Lesezeichen von Pfarrerin Iris Kaufmann aus Preveza geht es um vermeintlich falsche Entscheidungen und verpasste Möglichkeiten im Leben.
Oft quält uns der Gedanke darüber, ob gefällte Entscheidungen, eingeschlagene Richtungen, gegangene Wege wirklich richtig waren. Hätte ich doch …, wäre ich doch …, dann stände ich jetzt nicht so da, dann …
Hierzu hat mir folgende Geschichte gut gefallen:
Der Wunderknabe
Es war einmal ein Wunderknabe, der im zartesten Alter schon die ganze Welt erkannte. Von weither kamen Menschen, um mit ihm zu sprechen. Sein Ruf ging in die Welt hinaus, und bald wollte man überall von seinem Wissen profitieren. So machte er sich auf die Wanderschaft, um die ganze Welt, von der er gesprochen hatte, auch zu berühren. Er kam auf seinem Weg immer wieder auf einen Scheideweg, der ihn zwang, zwischen zwei, drei Möglichkeiten zu wählen. Bei jeder Entscheidung büßte er immer mehr Möglichkeiten ein. Die Spur wurde immer enger. Die Rede floss ihm nicht mehr wie einst. Er wurde älter und war schon längst kein Wunderkind mehr, hatte tausend Wege verpasst. Er machte immer weniger Worte. Er setzte sich auf einen Meilenstein und sprach zu sich selbst: „Ich habe immer nur verloren: an Boden, an Wissen, an Träumen. Ich bin ein Leben lang kleiner geworden. Jeder Schritt hat mich von etwas weggeführt. Ich wäre besser zu Hause geblieben, wo ich noch alles wusste und hatte, dann hätte ich nie entscheiden müssen, und alle Möglichkeiten wären noch da.“ Müde wie er war, ging er dennoch den Weg zu Ende, den er begonnen hatte. Er schaute sich um und merkte erstaunt, dass er auf einem Gipfel stand. Der Boden, den er verlassen hatte, lag in Terrassen unter ihm, er überblickte die ganze Welt, auch die verpassten Täler, und es zeigte sich also, dass er im Kleiner- und Kürzerwerden ein Leben lang aufwärts gegangen war.
(Hans Künstler, in: Friedrich Schorlemmer [Hrsg.], Das soll dir bleiben, Radius-Verlag 2017, S. 309)
Das kann ich gar nicht so recht glauben, dass wir uns in einer Aufwärtsentwicklung befinden, angesichts dessen, was gerade in der Welt geschieht und was uns hilflos macht und uns enttäuscht zurückziehen lässt.
Und dennoch: In einigen Tagen feiern wir Christen das Pfingstfest. Jesus hat uns den Heiligen Geist geschickt, den Tröster, wie es Luther im Johannesevangelium übersetzt. Man könnte auch sagen, es ist „einer, den man zur Unterstützung herbeiruft“, der neben uns ist, wenn wir ihn brauchen. Dann ist das doch wohl auch so bei jeder „falschen“ Entscheidung, jedem Umweg und jeder verpassten Möglichkeit. Es geht aufwärts, langsamer, als ich es mir wünsche, mit Entscheidungen, die vielleicht oft nicht sichtbar sind, aber mit der Zuversicht, dass uns der Heilige Geist „das gehörte Wort in unsere Herzen schreibe“ – wie Luther es ausdrückt – und wir davon ausgefüllt, mit dem Tröster an der Seite weitergehen können.