Nicht mehr
„Ich will Dir noch einen Gedanken sagen“, setzte mein Freund ein. Wir teilten wieder einige Stunden gemeinsamen Lesens miteinander. Keine ganz leichte Lektüre, und so hat es sich bewährt, uns gegenseitig vorzulesen und über den Text zu sprechen. Genussvolle Zeit.
Ihm schicke ich in der Regel auch die kleinen „Lesezeichen“ für die Homepage der Gemeinde. Vor einiger Zeit schrieb ich eine Kolumne über das „Noch“: Ich will in der Reflexion meiner Lebensjahre das Wort „noch“ durch das Wort „jetzt“ ersetzen, wenn ich etwas tun kann. Ich sage in meinem Innern zum Beispiel nicht mehr: „das schaffe ich noch“, sondern ersetze es durch „das schaffe ich jetzt“. Damit geht es mir besser.
Mein Freund ist mir einige Jahre voraus, das achte Jahrzehnt meldet sich an. Er ist sehr sportlich, schwimmt sommers wie winters. Er wohnt direkt am großen Stadtwald mitten in der Stadt, hat also alles um sich.
Er fährt fort: „Ich habe eine Beobachtung an mir gemacht. Sie ergänzt Deine Gedanken oder besser: sie wirft ein anderes Licht auf sie.
Ich hatte neulich den Wunsch, nach längerer Zeit mal wieder richtig zu joggen. Ich war gut drauf, die Sonne leuchtete, also ab die Post. Doch dann ging mir überraschend schnell die Puste aus. Ich trabte zurück. Seither ist mir klar: Das mit dem Laufen ist vorbei.“
Und dann griff er meine Gedanken aus dem „Lesezeichen“ auf. Er gehe seither verstärkt spazieren. Ihm sei klar geworden: Das mit dem Joggen geht nicht mehr. Doch es ist etwas passiert.
„Nicht mehr: Ein Verlust, klar, die Laufschuhe hatten ihre Zeit. Doch beim Gehen entstand etwas, das ich beim Laufen nie wahrnehmen konnte: Ich höre die Vögel im Stadtwald. Beim Laufen habe ich gar nichts gehört, nur meine knapper werdende Puste. Jetzt die Vögel! Aus dem „nicht mehr“ ist mir etwas anderes zugewachsen.“
Und er fügte hinzu: „Vielleicht ist das die Ergänzung zu Deinen Gedanken über das „Jetzt“.
Gewohnte Dinge aufgeben zu müssen ist schwer, zumal wenn sie liebgewonnen sind. Es braucht eine andere Haltung. Möglicherweise aber entsteht ein Raum, unerwartet vielleicht und nicht auf Anhieb zu erkennen. Schade wäre es, ihn als bloße Kompensation abzuwerten.
Unser Leib, ein „Tempel des Heiligen Geistes“, wie der Apostel Paulus schreibt, ist es auch in seinen Einschränkungen, wenn das „Jetzt“ mitunter einem „Nicht mehr“ weicht. Spannend, es so zu sehen. Was meinen Sie?
Pfarrer i.R. Martin Bergau