Es gibt ja immer wieder Augenblicke, die uns an uns zweifeln lassen – an dem, was wir tun und wie wir es tun. Da ist dann alles nicht richtig, wir fühlen uns falsch, irgendwie verschoben, und es scheint sinnlos, was uns gestern noch sinnvoll erschien. Wir sehen unsere Fehler und können sie schlecht aushalten – unsere Unzulänglichkeit macht uns unglücklich.
Zwei kleine Geschichten habe ich dazu gefunden:
Die eine ist die Geschichte vom Sprung in der Schüssel: In China lebt einmal vor langer Zeit eine alte Frau, die hoch oben auf einem Hügel wohnt. Jeden Tag geht sie zum Fluss hinab, um Wasser zu holen. Dazu hat sie ein Joch, das sie auf der Schulter trägt, an deren Enden zwei große Schüsseln hängen. Die eine Schüssel ist makellos, die andere jedoch hat einen Sprung. Und wenn die Frau den langen Weg vom Fluss zu ihrem Haus hinaufgeht, verliert die Schüssel mit dem Sprung immer etwas Wasser. Oben angekommen, ist sie nur noch halb voll. Die makellose Schüssel ist voller Stolz, dass sie immer voll bleibt. Die Schüssel mit dem Sprung aber schämt sich und ist betrübt, dass sie Wasser verliert und zum Schluss nur noch halbvoll ist. Eines Tages sagt die Schüssel mit dem Sprung zur alten Frau: «Ich schäme mich, dass ich auf dem Weg immer die Hälfte des Wassers verliere. Wie nutzlos, wertlos ich doch bin! Warum hast du mich nicht längst weggeworfen?» Die alte Frau lächelt: «Hast du gesehen, dass auf deiner Seite vom Weg prächtige Blumen blühen? Ich habe dort Samen gestreut, die Dank deinem „Makel“ wachsen konnten.»
Die andere ist von Wolfdietrich Schnurre:
Ich war vierzehn, da sah ich, im Holunder aß eine Amsel von den Beeren der Dolde.
Gesättigt, flog sie zur Mauer und strich sich am Gestein einen Samen vom Schnabel.
Ich war vierzig, da sah ich, auf der geborstenen Betonschicht wuchs ein Holunder. Die Wurzeln hatten die Mauer gesprengt; ein Riss klaffte in ihr, bequem zu durchschreiten.
Mit splitterndem Mörtel schrieb ich daneben: „Die Tat einer Amsel“.
Und was fällt mir dazu ein? „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?“ (Mt 6, 26). Ja, und irgendwie säen und ernten sie ja doch….- und sie sprengen Mauern!
Pfarrerin Iris Kaufmann