Liebe Mitglieder und Freunde der Athener Kirchengemeinde,
unser Freund Prof. Dr. Panagiotis Karanis ist derzeit auf Zypern tätig. Er war Professor in Deutschland, Japan und China. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der parasitären und Tropenkrankheiten. Als Professor der Medizin für Anatomie und Parasitologie hat er letztes Jahr die Aufgabe übernommen, den Medizinstudenten an der Universität in Nicosia auf Zypern die Anatomie des menschlichen Körpers zu lehren. Seine Verbundenheit mit uns, aber auch seine fachliche Kompetenz, ist uns wichtig. Er schreibt in Zeiten von Corona an unsere Kirchengemeinde.
Mit vielen Grüßen
Dr. Silke Weißker-Vorgias und Vera Sficas
’Παν μέτρον άριστον’… „Alles in Maßen“
Liebe Kirchengemeinde und –freunde in Athen,
in dieser für uns alle schwierigen und ungewohnten Zeit möchten meine Frau und ich einige Gedanken mit Ihnen/Euch teilen, und grüßen damit alle aus der schönen Eifel im Westen Deutschlands, nahe der belgisch-deutschen Grenze.
Ignaz Philipp Semmelweis (1818-1865) war ein ungarischer Chirurg und Geburtshelfer in Wien. Semmelweis führte das häufigere Auftreten von Kindbettfieber in öffentlichen Kliniken im Vergleich zur privaten Entbindung auf mangelnde Hygiene bei Ärzten und Krankenhauspersonal zurück und bemühte sich, Hygienevorschriften einzuführen.
Als Ergebnis seiner Studien wies Semmelweis seine Studenten an, die Hände vor jeder Untersuchung zu desinfizieren, mit Chlorlösung, später mit dem billigeren Chlorkalk – wie sich herausstellte, eine wirkungsvolle Maßnahme: Die Sterblichkeitsrate sank in nur wenigen Monaten von 12,3% auf 2-3%, 1848 sank die Sterblichkeitsrate auf 1,3%. Semmelweis erkannte, dass eine Ansteckung von lebenden Personen ausgehen konnte!
Trotz dieses Erfolgs wurden die Arbeiten von Semmelweis lange Zeit vor allem von führenden Medizinern nicht anerkannt. Viele Ärzte und auch seine Studenten hielten Sauberkeit für unnötig und wollten nicht wahrhaben, dass sie selbst die Verursacher jener Krankheit waren, die sie eigentlich heilen wollten. Während er zu Lebzeiten beschimpft und sogar in die Psychiatrie weggesperrt wurde, da Hygiene als Zeitverschwendung und unvereinbar mit den damals geltenden Theorien über Krankheitsursachen angesehen wurde, gilt er heute als „Retter der Mütter“.
Auch ein anderer Arzt, der schottische Chirurg Joseph Lister (1827-1912), machte sich verdient im Bereich der antiseptischen Chirurgie. Doch auch das Ergebnis seiner Ideen ließ lange auf sich warten: Es hatte fast zwei Jahrzehnte gedauert, bis seine Methoden von der Fachwelt der Chirurgen akzeptiert wurden. Nach Listers Studien bestand eine Sterblichkeitsrate nach der eigentlichen Operation von 50% infolge Infektionskrankheiten, die Benutzung von Antisepsis und ordentlicher Hygiene senkte diese Sterblichkeit auf 15%.
Ich hatte Glück in meinem Leben, wie natürlich alle in der heutigen Zeit Lebenden: Ich habe gelernt, mich selbstverständlich und natürlich vor Infektionskrankheiten zu schützen.
Bereits in der Grundschule im kleinen Dorf in Chrysso/Evritania mussten wir jeden Montag die Hände vorstrecken und der Lehrer prüfte, ob die Fingernägel geschnitten und die Finger sauber waren. Wir durften Katzen und Hunde streicheln, allerdings waren wir verpflichtet, unmittelbar danach unsere Hände gründlich zu waschen. Es war bekannt, dass zumindest Echinokokkeneier vom Hundekot übertragen werden können. Grundregeln der Natur, um dort zu überleben, wo medizinische Versorgung nicht existierte, wurden uns sehr früh beigebracht. Die modernen Leute in der Stadt halten die Tiere nicht nur innerhalb ihres Hauses, sie teilen sogar oft das Bett mit ihrem Hund oder ihrer Katze. Doch die Tatsache, dass auch diese domestizierten Tiere Krankheiten übertragen können, bleibt, so sehr sie auch geliebt und vermenschlicht werden. Hund und Katze können meist gut mit den Erregern koexistieren und überleben, Menschen aber nicht.
Wir alle haben das Glück, dass Desinfektion und Antiseptik eine Selbstverständlichkeit sind, setzen aber trotzdem unser Glück durch undiszipliniertes Verhalten aufs Spiel.
In Japan war mir anfangs der Begrüßungsstil sehr befremdlich, denn Japaner vermeiden Körperkontakt streng und diszipliniert. Im Laufe meiner Arbeit, und insbesondere in der aktuellen Corona-Krisenzeit, weiß ich diese Verhaltensregeln zu schätzen, und weiß um deren Berechtigung. Insbesondere in Griechenland, wo sich Menschen beider Geschlechter küssen, wenn sie sich begrüßen, sollte man umlernen und Körperberührungen unterlassen.
Diese Coronavirus-Pandemie ist nicht die erste Pandemie bzw. Epidemie und wird nicht die letzte sein. Beispiele gibt es zahlreich:
Die „Attische Seuche“ (Erreger unbekannt) in Athen kostete ¼ – 1/3 der Bevölkerung Athens das Leben 430-426 v. Chr. Der „Englische Schweiß“ mit 5 Ausbrüchen in England in den Jahren 1485/86, 1507, 1517, 1528/29, und 1551 – der Erreger konnte nie identifiziert werden. Die „Russische Grippe“ (Pferdeinfluenzavirus), eine Virusgrippe, die weltweit (pandemisch) innerhalb relativ kurzer Zeit ca. 1 Million Todesopfer forderte in den Jahren 1889-90. Die „Spanische Grippe“ (Influenzavirus) forderte in den Jahren 1918-20 nahezu 50 Mill. Tote weltweit. Die „Hongkong-Grippe“ (Influenzavirus) verlief weltweit 1968-70 für ca. 1 Mill. Menschen tödlich, in Deutschland starben ca. 30.000. Die „SARS-Pandemie“ 2002-03 war das erste Auftreten des SARS-assoziierten Coronavirus und lieferte ca. 774 Tote. Die „Vogelgrippe“ (Influenzavirus) seit 2004 mit weltweitem Vorkommen, hauptsächlich in den Jahren 2004 – 2016, mit mind. 450 Toten. Die „Schweinegrippe“ (Influenzavirus), weltweit, mind. 18.500 Todesopfer. Die Virusgrippe 2018-19 (Influenzavirus), die in Deutschland ca. 25.100 Tote forderte, und weltweit bis zu 646.000. Die Masernepidemie, seit 2018 in Madagaska, seit 2019 in der Demokratischen Republik Kongo und Samoa, v.a. Kinder betreffend, für bis zu 6.000 tödlich verlaufend, und zumindest Langzeitschäden verursachend. Und seit Nov. 2019 die „COVID-19 (= SARS-Cov-2)“-Pandemie, die bis dato mind. 110.000 Tote weltweit forderte.
Und es gibt viele Gründe dafür, warum es immer wahrscheinlicher wird, dass Massenausbrüche von Infektionskrankheiten über die Menschen hereinbrechen werden in immer kürzeren Abständen.
In Zeiten der Globalisierung ist es möglich geworden, innerhalb eines Tages in entfernteste Orte zu fliegen. Die Globalisierung bietet wahrlich einmalige Chancen, die Welt kennenzulernen, aber die Erde hält dies nicht mehr aus.
In den letzten Jahren hat sich die Touristenzahl in Griechenland vervielfacht: Dreimal mehr Touristen als einheimische Bevölkerung im Land. Stolz verkündete damals die Tourismusministerin, dass die Zahl von 30 Millionen Touristen in Griechenland im Jahr erreicht sei, und das Ziel wäre auf 40 Millionen zu erhöhen. Ich habe mich so oft gefragt und die Frage an die Zuhörer meiner Vorträge in Konferenzen gestellt: „Was soll das, ohne Sinn und Maß Touristenzahlen in die Höhe zu treiben? Wie sieht es mit Umweltschäden, Übermüllung, Störung der Tiere und derer Lebensräume aus?“ 15.000 Touristen aus aller Welt besuchten die Insel Santorini täglich in der Hochsaison: Menschen unterschiedlichster Herkunft, besiedelt mit unterschiedlichster Flora, dicht an dicht gedrängt auf Schiffen, auf Aussichtsplattformen, in Cafés und Restaurants: Ein Leichtes für Krankheitserreger unterschiedlichster Herkunft von Mensch zu Mensch überzuspringen und in neue Regionen verschleppt zu werden.
Die Neugierde der Menschen und der Drang, alles auf dieser Welt besitzen zu wollen, lassen sie in Gebiete vordringen, in denen sie eigentlich nichts zu suchen haben. Wildnis sollte wild und für sich bleiben, denn wilde Tiere, wie wir wissen, tragen viele Viren, Bakterien und Parasiten an und in sich, die ihnen selbst nicht oder unwesentlich schaden, aber im Menschen unbeherrschbare Krankheiten auslösen können – wie wir jetzt sehen. Wir sollten lernen, mit der Natur zu leben und sie zu respektieren und Natur natürlich sein zu lassen.
Massentierhaltung, Abrodung, Verschleppung von wilden Tieren auf Märkte, Massenkonsum, Tourismus, Vernichtung von Lebensräumen u.v.m. – alles, was wir beeinflussen könnten – macht (uns) krank.
Wir sollten uns wieder an das One-Health-Konzept erinnern, das schon von einem kanadischen Tierarzt 1948 entwickelt wurde: Umwelt-Tier-Mensch: keiner kann ohne den anderen. Kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze kann in einer kranken Umwelt existieren, zumindest nicht gesund. Umwelt- und Klimaschutz ist Infektionsschutz bzw. Schutz vor Krankheiten.
Wir haben es in der Hand, ob das egoistische Jeder-für-sich weiter geht oder nicht. Die Welt nach der Corona-Lektion wird eine andere sein, so oder so. In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wir leben werden und leben möchten, hängt von uns ab.
Wir alle wissen, dass der fromme, aber arrogante Mensch unserer Zeit das Leben auf diesem kleinen Planeten, der heute weltweit bedroht ist, aber auch mit tragischen Folgen für sein eigenes Leben, in den Händen hält.
Meine Frau und ich denken, dass die Natur, als Folge der „verrückten (im Sinne von „daneben“) Weltordnung“, uns erneut eine Pandemie geschickt hat, um „unsere Weltordnung“ tüchtig durcheinander zu bringen und uns eine Chance zu geben, inne zu halten und diese zu überdenken, und neu zu ordnen! Und es wird sich solange wiederholen, bis wir gelernt und verändert haben.
Aber wir alle tun so, als ob wir ohnmächtig und gewissen „Gewalten“ dieser Erde ausgeliefert seien und nichts ausrichten könnten.
Ist das so?
Wir wünschen allen Gesundheit und dass Sie diese Krise unbeschadet überstehen,
und freuen uns auf ein Wiedersehen in Athen.
Prof. Dr. Panagiotis Karanis & Dr. med. Gabriele Karanis