Die Schätzung
Der 30. Oktober war der Weltspartag. Da gingen wir Kinder mit unserer Spardose zur Sparkasse, die wurde dort geöffnet, das Geld gezählt. Es gab auch kleine Belohnungen, ein Radiergummi etwa oder ein Lineal.
Ich hatte einen besonderen Spaß daran, in einem ausgedienten Weckglas ausschließlich Pfennige zu sammeln. Übers Jahr kamen einige zusammen. Und dann das Familienspiel: Schätze mal, wieviel Pfennige sind darin? Die Schätzung. Sie nimmt in Augenschein, wägt ab, dann spricht sie danach ein Maß. Meistens wurde unterschätzt, ich meinerseits habe in der Regel überschätzt. Ich fand ja auch den Pfennigberg großartig und vermögend.
In den nächsten Tagen wird wieder in unseren Kirchen und auch zu Hause die Weihnachtsgeschichte gelesen. In der Übersetzung Martin Luthers beginnt sie so: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ (Lukas 2,1)
Das hört sich unspektakulärer an, als es für die Menschen tatsächlich war. Aus den Zeugnissen antiker Schriften wissen wir, was es mit einer „Schätzung“ auf sich hatte. Es handelte sich eben nicht um eine einfache Erhebung, um die Bilanzlisten einer Kommune abzugleichen.
Menschen wurden an ihre Herkunftsorte verfrachtet, also entwurzelt; die Äcker Scholle für Scholle vermessen, jeder Weinstock, jeder Obstbaum gezählt. An den größeren Orten trieb man Land- und Stadtbevölkerung zusammen. Unzähligen wurden Abgaben abgepresst, die sie zu lebenslanger Fron zwangen. Wer nicht folgte, wurde gequält und nicht selten um Leib und Leben gebracht.
Vor allem ging es darum, erhöhte Steuermittel einzuwerben, um die Aufstände zu bekämpfen, die den Herrschenden der Weltmächte Widerstand entgegen brachten.
Es war eine geschundene Welt und Gegenwart, in der sich die Geburt des Gotteskindes anbahnte. Es war die Zeit der Schätzung – und damit der Auflösung, der Vertreibung, der Entwurzelung. Und in ihr Josef und Maria, kurz vor der Geburt des Gottessohnes. So nimmt der Gottessohn seinen Weg in die Welt.
Das zu vergegenwärtigen, mit diesem Hintergrund sich auf die Ankunft Gottes adventlich vorzubereiten, ist gerade in diesen Tagen einer aufgewühlten Gegenwart eine innere Arbeit. Auch für unser Bitten, Ringen und Sehnen nach Frieden, gerade für die Welt, in der einst die Beiden mit dem ungeborenen Kind der Schätzung ausgesetzt waren.
Pfarrer i.R. Martin Bergau