Was eine Straße in Athen mit der Reformation zu tun hat
Am kommenden Sonntag feiern wir Reformationsfest; der Gottesdienst mit festlicher Musik beginnt wie üblich um 10 Uhr. Was hat Martin Luther in einem Land, das von der orthodoxen Tradition geprägt ist, zu sagen? Die Reformation hat sich vor 500 Jahren im Westen ereignet; sie kann als Krise der Kirche des Westens bezeichnet werden. In der orthodoxen Kirche hat man immer wieder gemeint: Mit der Reformation Luthers brauchen wir uns nicht zu befassen; wir stehen in einer Jahrtausende alten Tradition, die wir bisher heute bewahren.
Und doch hat sich jemand damit befasst, nach dem in Athen sogar eine Straße benannt ist: Als ich neulich nach einem Besuch im Haus Koroneos die breite Alexandras-Straße entlang ging, stieß ich auf eine Nebenstraße, die wie manch andere Straße nach einem Patriarchen der orthodoxen Kirche benannt ist: Odos Patriarchou Ieremiou. Patriarch Jeremias II. lebte im 16. Jahrhundert und hatte Verbindung zur lutherischen Reformation in Deutschland.
Martin Luther selber hat sich nur sehr selten zur orthodoxen Kirche, zur Kirche von Konstantinopel, wie er sagte, geäußert. Er sah eine Verbindung von Orthodoxie und Reformation, weil auch die orthodoxe Kirche die Vorherrschaft des römischen Papstes ablehnt. Aber in anderer Hinsicht blieb ihm die orthodoxe Kirche mindestens genauso fremd wie die römisch-katholische: Denn in der orthodoxen Kirche kannte man nicht den von Luther geforderten direkten Zugang zur Bibel, sondern nahm die biblische Botschaft nur in der Vermittlung und Interpretation durch die Kirchenväter und die kirchliche Tradition wahr. Außerdem waren Luther die vielen Rituale und die Verehrung der Heiligen fremd, weil sie nicht durch die Bibel begründet waren.
Aber einige Jahrzehnte nach Luthers Tod gab es Kontakte von Lutheranern mit Orthodoxen. Die lutherischen Professoren der Universität Tübingen in Südwestdeutschland und der orthodoxe Patriarch von Konstantinopel, Jeremias II., standen in der Zeit von 1573 bis 1581 im Briefverkehr. Man geht da freundlich miteinander um und wirbt um Verständnis. Aber letztlich teilte man sich Bekenntnisformulierungen mit, die natürlich von der Gegenseite kritisiert wurden. Der Versuch der Annäherung scheiterte.
Der Patriarch hielt den Lutheranern insbesondere vor, was man auch von Menschen des 21. Jahrhunderts sagen könnte: Es sei die Grundkrankheit des westlichen Geistes, ständig alles in Frage zu stellen, mit der Tradition unzufrieden zu sein und immer nach Neuem zu streben. Das schaffe nur Unruhe; der menschliche Geist könne da nicht still werden.
Ich finde das interessant: Der Patriarch hat ja Recht: Denn der einzelne Glaubende steht in der großen und langen Geschichte des Glaubens, in der Gemeinschaft der Kirche über Jahrhunderte hinweg. Der Einzelne erfindet nicht den Glauben neu, sondern er ist geprägt durch die Tradition, die er achten und lieb gewinnen soll. Tradition kann etwas Schönes sein: Hilfe, nicht Ballast.
Aber es wäre damals wünschenswert gewesen, wie es auch heute zu wünschen ist, dass Martin Luther als ein Mensch gesehen wird, der um den Glauben gerungen hat. Er war ja nicht angetreten, alles zu ändern und eine neue Kirche zu gründen. Die Reformation ist vielmehr erwachsen aus den inneren Bewegungen, die Luther über Jahre hin erfasst haben, aus den persönlichen Fragen nach einem gnädigen Gott, aus Anfechtung und Zweifel, aus dem Bemühen, sich den Glauben in einer persönlichen Sprache und mit verständlichen Worten, nicht mit Bekenntnisformeln, anzueignen.
An Luther können wir sehen, dass der Glaube nicht einfach zur Verfügung steht, sondern neu errungen und in persönlicher Freiheit und Verantwortung gelebt werden muss. Luther ist für mich ein Glaubenszeuge, ein Glaubenskämpfer. So möchte ich ihn sehen; und ich wünsche mir, dass er so auch von orthodoxen Christen in Griechenland gesehen wird.