Liebe Mitglieder und Freunde unserer Athener Gemeinde,
im heutigen Lesezeichen geht es um eine Geschichte, die Ihnen von Pfarrerin Iris Kaufmann zur heutigen Tageslosung aus dem Buch Hiob erzählt wird.
In Gottes Hand ist die Seele von allem, was lebt. (Hiob 12,10)
Ausgerechnet Hiob: Hiob beklagt nicht nur die absurde Ungerechtigkeit der Welt, wie sie ist, sondern er macht Gott dafür verantwortlich.
Lesen wir dazu einen Auszug aus einer Geschichte von dem Friedensnobelpreisträger, Schriftsteller und Holocaustüberlebenden Elie Wiesel:
Die Geschichte erzählt davon, wie während des Krieges, im Konzentrationslager ein Rabbiner mit zwei anderen Rabbinern beschlossen hat, ein rabbinisches Tribunal einzuberufen und Gott anzuklagen.
„…Was sie taten, war vollständig in Übereinstimmung mit dem jüdischen Gesetz und mit der jüdischen Tradition. Ich weiß, dass es für Christen schwierig ist, das zu verstehen, und noch schwieriger, es zu akzeptieren, dass wir Menschen Gott anklagen können. Juden können es, Juden haben es stets getan:
Abraham hat es getan, Moses und Hiob haben es getan, der Talmud ist voll von Rabbinen, die gegen Gott protestiert haben. …
Wir dürfen Nein sagen zu Gott. Vorausgesetzt, es geschieht für andere Menschen, um des Menschen willen. Wir dürfen Nein sagen zu Gott. Das ist für mich eine große Neuerung, kühn, revolutionär, in der jüdischen Tradition.
Und so beschlossen die drei Rabbiner in diesem Lager, einen Prozess zu veranstalten. Die Verhandlungen des Tribunals zogen sich lange hin. Und schließlich verkündete mein Lehrer, der Vorsitzender des Tribunals gewesen war, das Urteil: Schuldig.
Und dann herrschte Schweigen – ein Schweigen, das mich an das Schweigen am Sinai erinnerte, ein endloses, ewiges Schweigen.
Aber schließlich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten.
Und wir beteten zu Gott, der gerade wenige Minuten vorher von seinen Kindern für schuldig erklärt worden war.“
Elie Wiesel, in: Olaf Schwenke (Hg.): Erinnerung als Gegenwart. Elie Wiesel in Loccum, Evangelische Akademie Loccum, 1987, S. 117-119 (gekürzt).